Theater

Es ist Sonntag. 

Wir wollen zum Seepark in Freiburg. 


Da gibt es heute eine Puppentheatervorstellung von Pettersson und Findus in einem Theaterzelt. 


Die Vorfreude und die Aufregung auf das Puppentheater mit Pettersson & Findus ist groß beim großen Mädchen. 


Meine Aufregung beschäftigt sich damit, ob die heutige veränderte und somit ungewohnte Anfahrt gelingt; es ist nämlich auch Marathonwochenende in der Stadt und alle üblichen Anfahrtswege sind gesperrt. 


So ein Theaterbesuch erfordert sowieso schon gute Vorbereitung, damit wir alle, aber eben auch besonders das große Mädchen gut partizipieren können. 


Ein geänderter Anfahrtsweg und Fußstrecke muss gut besprochen werden, der Marathon erklärt und auf den Trubel dieses Events vorbereitet werden, denn wir müssen direkt an einem Teil der Strecke vorbei, um zum Theaterzelt zu kommen. 


Auch trotz Vorbereitungen und Erklärungen war, nachdem wir dann das Auto abgestellt hatten und zu Fuß weiter sind, das Gewimmel der vielen LäuferInnen und das anfeuernde Publikum eine Herausforderung für das große Mädchen. 

Ich habe damit schon gerechnet und extra Zeit eingeplant, damit wir uns das Ganze erstmal aus der Ferne anschauen und vertraut mit der Situation werden können. 


Mit der Zeit, gemeinsamen Beobachten und über die Situation sprechen, war es möglich, weiter zum Theaterzelt zu laufen. 

Das taten wir über einen Grünstreifen am Rand der Laufstrecke, wobei es dem großen Mädchen sehr wichtig war, dass wir achtsam auf die Gänseblümchen und Löwenzahnblumen aufpassen und diese nicht platttrampeln. 

Das erforderte natürlich ein weiteres Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit, die aber ja auch immer wieder durch die vorbeiziehenden Läufer und das Publikum abgelenkt wurde. 


Natürlich war dann direkt vor dem farbenfrohen Zelt mit seinen riesigen, aufgeblasenen Dekofiguren und den grellbunten, auf die Zeltwände aufgemalten Figuren, eine kleine Musikbühne, um die Läufer anzufeuern. 


Für mich als Mutter eines Kindes mit autistischer Wahrnehmung der Supergau, da zusätzliche laute Livemusik zu der eh schon angeschwollenen Lärmkulisse durch die Stimmung am Marathonstreckenrand, dem Warten in der Schlange am Ticketverkauf, das Klarkommen damit, dass doch in einem unachtsamen Moment ein Blümchen zertrampelt wurde und den vielen visuellen Eindrücken, die geballte Flut von Reizen, die ja auch alle verarbeitet werden wollen, deutlich gefährlich anschwellen lassen kann. 


Ich war also ebenfalls angespannt, versuchte Körpersprache und Gesichtsausdruck des großen Mädchens richtig zu interpretieren und einen alternativen Platz zum Warten für sie, begleitet von der Oma, zu finden. 

Das war dann weiter weg von der kleinen Musikbühne möglich. 


Das große Mädchen hat das Warten, bevor der Ticketverkauf startete, mit Begleitung und Erklärungen super gut gemeistert und ich bin in solchen Momenten so stolz, wie toll sie das schafft und wie gut sie da mittlerweile mit sich und diesen herausfordernden Situationen umgehen gelernt hat. 


Aufgrund ihrer Körpersprache merkte ich ihr die offensichtliche Überreizung aber natürlich an, übernahm also die Führung und Co-Regulation, während wir das Vorführungszelt betraten und suchte uns Plätze am Rand, gleich neben dem Ausgang. 


Damit das große Kind an der Vorführung bei all der inneren Aufregung, den ungewohnten Reizen aus Gerüchen, Lichtverhältnissen, Geräuschen der Popcornmaschine am Eingang, der Musik im Zelt, der Musik vor dem Zelt, den natürlich noch zu hörenden Anfeuerungsrufen und den vielen unbekannten kleinen & großen anderen Zuschauern gut und vor allem mit Freude teilhaben kann, ist die Wahl eines gut gelegenen Sitzplatzes entscheidend. 


Mittendrin, auf einer Bank vor der Bühne, links und rechts andere Kinder, wäre schlicht nicht möglich, da das Unbehagen in sozialen Situationen und unverhinderbare Interaktionen mit Peers, eine heftige [in unserem Fall] Flight und Freeze Reaktion auslösen und sich dann leider zu einem Meltdown potenzieren kann. 


Ein Meltdown ist nicht zu vergleichen mit dem Wutanfall eines Kindes, dass sich an der Supermarktkasse schreiend hinwirft oder ausrastet, weil es wütend ist, den Lutscher nicht zu bekommen. 


Ein Meltdown ist eine Reaktion auf den krassen Overload an Reizen, die in kurzer Zeit die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns so krass übersteigen, dass sich die aufgestaute Anspannung und Überforderung unwillkürlich entläd. 


Außenstehende sehen wahrscheinlich ein unkontrolliert schreiendes Kind, welches vielleicht auch sich selbst oder Bezugspersonen verletzt, gegen Gegenstände oder Möbel tritt, Sachen durch die Gegend wirft und/oder auch einfach blindlings wegläuft. 

Ein Meltdown ist keine gewollte oder steuerbare Wutreaktion, weil die Eltern zu irgendetwas „Nein“ gesagt haben und die beendet wäre, wenn das Gewollte erworben wäre;  ein Meltdown ist eine innere Kernschmelze, weil alles zu viel ist und grade nicht mehr selbst reguliert werden kann- das autistische Kind ist in großer Not und braucht vor allem Verständnis, Begleitung und Versuche der Co-Regulation durch eine vertraute Person, um einigermaßen unbeschadet aus diesem heftigen Gefühlstornado wieder herauszufinden. 

Nicht selten schließt sich einem Meltdown ein Shutdown an. 


Wie sicher gut vorstellbar, ist so ein Meltdown irrsinnig anstrengend für diejenigen, die ihn durchleben. 

Körper und Geist sind nach diesen heftig explodierenden Gefühlen und bedrohlichen Erleben der Situation erschöpft und das ganze aufgebrachte System braucht eine sofortige Pause und Neustart. 

Es kann sein, dass der autistische Mensch in dieser Erschöpfungsphase einschläft oder wie apathisch im Kinderwagen/Beförderungsmittel/auf dem Arm der Eltern hängt und einfach grade zu gar nichts mehr in der Lage ist. 

Auf jeden Fall braucht er Ruhe und auch eine möglichst reizarme oder vertraute Umgebung, in der er zu dieser dringend benötigten Ruhe finden kann. 

Oft äußern sich auch körperliche Symptome, wie Kopfschmerzen, Verspannungen, Zittern, Übelkeit und dergleichen mehr. 


Zu einem Meltdown kann es deswegen kommen, da das autistische Gehirn im Beispiel: „auf der Bank in einer ungewohnten Umgebung, zwischen anderen Kindern sitzen“, die Verhaltensweisen, Gemütslagen und Gefühle der anderen Kinder nicht in einer der Situation erforderlich schnellen Zeitspanne erfassen und auswerten kann, was sie also in der Wahrnehmung des großen Mädchens unberechenbar und unvorhersehbar macht. 

Das macht natürlich unsicher und löst Angst aus, das Kind gerät in Stress und es wäre gründlich vorbei mit dem eigentlichen Vorhaben: Anschauen des Theaterstücks. 


Und darum geht es ja. 

Dass sie mit Freude teilhaben kann, dass sie sich positiv in der Situation erlebt, wie sie sie erfolgreich meistert. 

Deswegen bin ich stets auf gründliche Vorbereitung so eines Ausflugs bedacht, denn je mehr das große Mädchen im Vorfeld über eine Situation weiß, desto mehr verliert die Situation an Schrecken. 


Mein Hauptziel ist also die Vermeidung einer inneren Kernschmelze. 

Eine Überreizung ihres Systems werde ich bei solchen Unternehmungen nicht verhindern können, aber ich kann sie dabei begleiten, die Reize einzuordnen und ihr in den richtigen Momenten so zu helfen, dass es nicht schlagartig so viel wird, dass alles kippt und ihr schadet. 


Regulation. It’s an important thing! 


Wir saßen also im Theaterzelt und warteten mit Popcorn und Einhornluftballon in der Hand auf Vorstellungsbeginn. 

Das große Kind hat bis hier hin schon ziemlich viel geleistet: 

-Umgehen mit der eigenen Vorfreude, Aufgeregtheit und Unsicherheit, was sie denn genau erwartet 

-einen morgendlichen Streit, weil auch Zähneputzen und Anziehen nötig sind, um das Haus zu verlassen 

-Wahrnehmen der Angespanntheit der Mama (wegen des veränderten Fahrtweges und Unsicherheit, wo man einen Parkplatz findet)

-Freude auf die begleitende Oma 

-die Helligkeit & das ungewöhnlich heiße Wetter 

-den Hinweg an der lauten Marathonstrecke entlang und dem Willen, nicht auf die Blumen zu treten (was ja aber das freie Laufen erschwerte)

-Warten auf das Ticket, Betreten des Theaterzelts, vertraut werden mit Scheinwerferlicht, Lärm der anderen Kinder und wieder warten bis es losgeht 

-Entscheidung treffen, welcher Luftballon gekauft werden möchte 


All das sind natürlich Sachen, die muß jedes Kind erstmal lernen:

Warten, Übergänge von einer Situation in eine nächste, Zuhören, was Bezugspersonen sagen. 

Und natürlich kann und soll auch ein autistisches Kind diese Sachen lernen, aber es benötigt dafür einfach mehr Zeit, Übung und das Verständnis, dass das autistische Gegenüber über eine anderen Wahrnehmung verfügt, als man selbst (sollte man neurotypisch sein). 


Hier ist es oft so, dass das, was neurotypische Kinder oft mühelos durch Spielen oder gemeinsamen Miteinander erlernen, bei uns richtige Arbeitsschritte sind. 

Es braucht von allem mehr: mehr Zeit, mehr Erklärungen, mehr Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse, mehr Vorbereitungen und mehr Begleitung. 

Mehr von „wie kann es gelingen und was braucht es dafür“. 

Und es ist ganz wundervoll, das große Mädchen dabei begleiten zu dürfen. Und auch so, so anstrengend. 

Das darf beides sein. Diese Gleichzeitigkeit.


Was für neurotypische Familien also ein Hinlaufen zum Theater mit: „oh ja, guck, hier laufen welche und es läuft Musik“, ist; ist für uns eine ordentliche Herausforderung, die zwar durchaus machbar ist, aber guter Vorausplanung bedarf.


Bei der Vorführung hatte das große Mädchen dann Spaß und war ganz dabei, stellte mir umfangreiche Fragen- Detailwahrnehmung und Erklärungsbedarf- und konnte sogar mit den Figuren des Theaterstücks interagieren, als diese alle Kinder zum Mitrufen aufforderten. 

Das ist ein weiteres Erfolgserlebnis und war noch vor einem halben Jahr nicht möglich, da die plötzliche Lautstärke von den einsetzenden Kinderrufen Panik auslösten. 


Auf dem Rückweg, nach Ende der Vorstellung, besuchten wir noch den angrenzenden Spielplatz. 

Dieser war gut besucht und ich war hin- und hergerissen zwischen den Gedanken, dass Bewegung nach dem langen Sitzen und der Anspannung während des Theaters ziemlich gut wäre, die vielen Kinder und Spielplatzeindrücke aber auch zusätzlich überreizen könnten. 


Zudem fiel auch von mir die Anspannung ab, ich war über den Moment des Sitzens auf der Spielplatzbank, während das große Mädchen mit der Oma abzog nicht undankbar. 


Da meine Regulation das Schreiben ist, fing ich also dort auf dieser Bank an, diesen Text hier zu verfassen. 

Beendet habe ich ihn Stunden später in unserem abgedunkelten Schlafzimmer, in das ich mich zurück gezogen habe, weil auch ich komplett überreizt von den Erlebnissen des Tages war. 


Dadurch, dass ich also auf der Bank saß und die Oma mit dem großen Mädchen unterwegs war, konnte ich, als wir wieder aufeinander trafen, nicht gut genug einschätzen, was Stand der Dinge ist. 

Das große Kind wollte Rutschen, aber nur mit einem Erwachsenen zusammen, ich wollte mit Sonnencreme eincremen. 

Kooperationsbereitschaft war noch gegeben, so dass ich mich also nach dem von mir gewünschten Eincremen im Kletterturm in Richtung Rutsche wiederfand, wo ich gleichzeitig versuchte, das große Kind anzuleiten und keinem anderen Kind mit meinen großen Erwachsenenschuhen auf die Finger zu treten in dieser beengten Turmlandschaft. 


Es war mir eigentlich klar, dass diese ganze Situation nach dem bereits Erlebten, alles ziemlich kippen lassen könnte, aber nun war das große Mädchen bereits am Eingang der Rutsche oben, während ich unten die anderen rutschewütigen Kinder vorbei ließ, die natürlich oben an meiner Tochter vorbei in die Röhrenrutsche wollten; was ja wiederum Interaktion für meine Tochter bedeutete, die aufgrund dessen vollständig erstarrte und sich mit immer panischeren Augen zur Seite drängen ließ. 

Diese Momente brechen mir das Herz. 

Denn in diesen Momenten wird ihr natürlich auch auf die Finger gestanden oder sie geschubst, ohne, dass sie einen Ton von sich gibt, aber innerlich nur ganz, ganz weit weg will und alles in ihr schreit. 

Sich (verbal) zu wehren oder aus dem Weg zu gehen, ist ihr in diesen Freezezuständen schlicht nicht möglich. 

Und auch, wenn die Kinder ihr nicht absichtlich auf die Finger treten, so passiert es doch. 

Und es tut sicherlich weh und sie kann sich nicht selbst aus dieser Situation befreien. 


Ich wusste also, ich muss da hoch- völlig gleich, ob dieser Turm jetzt für meinen eher breiten Erwachsenenkörper ausgelegt ist oder nicht (Spoiler: ist er nicht!), da das große Mädchen nicht ohne mich da runter rutschen wird und auch nicht selbstständig zurück klettern kann. 


Ich nutzte also die nächste Lücke und schlussendlich rutschten wir zusammen unter wildem Gejohle die Röhre hinunter. 


Mir war klar, dass dies jetzt das absolute Maximum an Erlebnissen war und kündigte den Aufbruch zum Auto an. 


Und dann kam die Wut beim großen Mädchen. 

Aber nicht nur die. 

Sondern alles, was da schon in den letzten Stunden das kindliche Nervensystem beschäftigte, brach heraus und da war er dann: der beginnende Meltdown mit Schreien, Kaputtmachen und dem übermächtigen Gefühlstornado, der alles einfach wegfegt. 


Ich bin unglaublich beeindruckt von meinem großen Mädchen, dass sie sich dennoch auf meine Worte und Begleitung einlassen konnte und die Regulationsstrategien so griffen, dass sie nicht völlig in den Meltdown gerissen wurde, sondern es wieder schaffte, soweit herauszufinden, dass sie sich ins Auto setzen (welches auch noch elendiglich von der Sonne aufgeheizt war) und angebotenes Essen und Trinken zu sich nehmen konnte.


Das sind die Momente, auf die es ankommt. 

Dass sie in diesen Momenten die Sicherheit hat, dass eine Bezugsperson an ihrer Seite ist.

Und ich arbeite jeden Tag hart an mir, dass sie sich da auf mich verlassen kann.

Das mit dem ruhig bleiben gelingt mir nämlich wahrlich nicht immer. 


Mit ein wenig Safefood im Bauch und der Gewissheit, dass da eine stabile, erwachsene Person ist, die einen liebt, auch wenn man brüllt, konnte sich das Nervensystem wieder etwas entspannen und das große Mädchen durchatmen. 


Ein weiteres Erfolgserlebnis: wir waren nach all dem noch ein Eis essen. 

In dem vertrauten und vom großen Kind geliebten kleinen Café bei uns im Dorf, mit viel Zeit zum Entscheiden der Eissorte und selbstwirksamer Platzwahl auf der Gästeterrasse. 


Und mit Eis im Bauch kam die Selbstsicherheit wieder und der Wunsch, ganz alleine nach Hause zu laufen. Ohne Mama! Zum allerersten Mal dieser Wunsch. 

Und so begleitete ich das große Mädchen noch über die Straße auf den Gehweg und wir verabschiedeten uns bis gleich zuhause. 


Was bin ich krass stolz auf mein tolles Kind, welches nicht nur nach all dem noch zum allerersten Mal alleine nach Hause gelaufen und dort sehr stolz beim Papa angekommen ist, sondern auch nochmal umdrehte, um mich an unserer Straßeneinfahrt abzuholen, um zu sehen, ob mit mir alles in Ordnung ist ❤️ 




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